Vierzig Jahre lang ist Berlin als Hauptstadt der DDR Ort vieler staatlich organisierter Kundgebungen. Jugendliche in blauen Hemden marschieren mit roten Fahnen an den Mächtigen vorbei, zum letzten Mal am 6. Oktober 1989. Nur vier Wochen später, am 4. November, ist alles anders. Ostdeutsche versammeln sich aus eigenem Antrieb auf der Kreuzung Mollstraße/Karl-Liebknecht-Straße. Statt Fahnen tragen sie Schilder mit fantasievollen Sprüchen: "Stasi in die Produktion" oder "Stell Dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg". Über Stunden ziehen sie friedlich am Palast der Republik und dem Staatsratsgebäude vorbei. Manche stellen Kerzen vor diesen Machtzentralen auf. Ihr Ziel ist der Alexanderplatz, wo sich mindestens 200.000, vielleicht aber auch eine halbe Million Menschen versammeln. Am selben Ort hat die SED-Führung nur einen Monat zuvor hunderte Demonstranten verhaften und verprügeln lassen.
Diese größte Demonstration in der Geschichte der DDR haben Film- und Theaterschaffende angemeldet. Viele Menschen trauen sich teilzunehmen, weil sie offiziell genehmigt wird. Bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler lesen die Artikel der DDR-Verfassung zur Meinungs- und Pressefreiheit vor. Was das Recht bisher nur verspricht, soll nun Wirklichkeit werden. Die freie Rede erreicht von Ost-Berlin aus die gesamte DDR, weil Fernsehmitarbeiter die Kundgebung eigenmächtig übertragen.
Zu den 26 Rednerinnen und Rednern zählen auch vier Persönlichkeiten der neuen politischen Gruppen, die die Demonstration unterstützen. Auf die Rednerliste setzt das Organisationsteam außerdem zwei Spitzenvertreter der Staatspartei SED. Politbüromitglied Günter Schabowski und Markus Wolf, früherer Leiter der Auslandsspionage, versprechen einen Neuanfang. Das Publikum lehnt viele ihrer Äußerungen lautstark ab. Friedrich Schorlemmer vom neu gegründeten Demokratischen Aufbruch warnt vor Rachegefühlen: "Tolerieren wir nirgendwo Stimmen und Stimmungen der Vergeltung!" Eine Erneuerung der DDR könne nur gemeinsam mit der SED gelingen.
Viele Reden fordern den Dialog zwischen alten und neuen Kräften, freie Wahlen und einen erneuerten Sozialismus. Die Alleinherrschaft der SED müsse enden, die Überwachung durch die Staatssicherheit aufhören. "Rechtssicherheit ist die beste Staatssicherheit", steht auf einem Transparent. Manche Spruchbänder fordern Reisefreiheit; vom Fall der Mauer ist nicht die Rede, erst recht nicht von der Deutschen Einheit. Dieser Meilenstein der friedlichen Revolution wirkt wie der Aufbruch in eine neue DDR, den die Ereignisse aber bald einholen.