Seine Lippen sind knallrot geschminkt, die Augen mit schwarzem Kajal nachgezogen. Er trägt einen schwarzen Anzug mit Pailletten und roter Fliege. Hatay Engin steht auf der Bühne im umgebauten Bahnhof Bülowstraße und singt mit Leidenschaft alte osmanische Lieder. Es ist ein ganz normaler Samstagabend im Türkischen Basar 1990. Es ist voll, laut und die Stimmung aufgedreht. Besucherinnen und Besucher singen, tanzen, lachen und prosten sich zu. Seit September 1980 ist der stillgelegte Bahnhof der wichtigste Treffpunkt für die türkische Community in West-Berlin. Die Musik im Türkischen Basar ist für viele ein Stück Heimat in der Fremde. Ebenso wie das türkische Essen, die Juweliere, die Plattenläden und die kleinen Teestuben.
Die Berliner Mauer hindert im August 1961 Menschen aus der DDR von heute auf morgen daran, in West-Berliner Betrieben zu arbeiten. Ihre Jobs übernehmen in der Folgezeit zahlreiche sogenannte Gastarbeiter, die vor allem aus der Türkei stammen. Der Bau der Mauer kappt auch Bahnverbindungen von West nach Ost. Der Bahnhof Bülowstraße wird geschlossen und steht leer. Ein Jahrmarkt auf der Hochbahnstrecke soll die Gegend beleben, doch erst das Projekt des cleveren türkischen Geschäftsmanns Atalay Özcakir ist erfolgreich. Im September 1980 eröffnet er den Türkischen Basar.
Dann ist es abermals die Mauer, die das Leben der türkischen Community verändert. Nach ihrem Fall im Herbst 1989 werden immer mehr Jobs in der Industrie abgebaut. Das trifft vor allem die migrantische Bevölkerung. Sie müssen sich im wiedervereinigten Deutschland neu orientieren. Für viele ist die Selbstständigkeit der Ausweg aus der plötzlichen Arbeitslosigkeit. Sie eröffnen Supermärkte, Restaurants, Läden. Und sie nutzen die neuen Möglichkeiten und die kurzen Wege in den Osten Berlins, um auch dort erfolgreich zu sein, wie Izzet Aydogdu. Ein selbstgebauter Imbisswagen vor dem Oranienburger Tor macht den türkeistämmigen Sozialarbeiter aus Kreuzberg kurzzeitig reich. Doch Izzet Aydogdu muss hart kämpfen für seinen Erfolg. Zwei Tage nach der Eröffnung des Imbisswagens wird er von Neonazis angezündet und niedergebrannt. Rassismus ist die türkische Community bereits in West-Berlin und der Bundesrepublik ausgesetzt. Doch in den Neunzigerjahren nehmen Gewalttaten und Anschläge enorm zu. Aydogdu lässt sich nicht entmutigen. Er macht weiter. Andere stellen sich die Frage, ob sie noch zu dem Land gehören, in dem sie leben. Eine Diskussion über Rassismus, Identität und Zugehörigkeit entsteht. In der Folgezeit werden Erinnerungen aus vielfältigen Perspektiven und die Auseinandersetzung mit der eigenen migrantischen Familiengeschichte in Filmen, Theaterstücken, Musik sicht- und hörbar.
Seit November 1993 rollen dort, wo dreizehn Jahre türkische Musik erklingt, wieder Züge. Der Bahnhof Bülowstraße verbindet abermals Ost und West. Vom Bahnsteig sind die vielen Graffitis und Galerien sichtbar. Heute kommen Touristen aus der ganzen Welt in den angesagten Kiez, um dort zu feiern. Die einstmals unsanierten Häuser in Mauernähe strahlen wieder und sind begehrt. Türkeistämmige Migrantinnen und Migranten prägen immer noch den Kiez. Die Kinder und Enkel der Generation, die im Türkischen Basar gefeiert haben, gehören heute ganz selbstverständlich in die Mitte Berlins.