Nieselregen, Buh-Rufe und sehr viel schwarze Farbe – eine düstere Stimmung liegt über dem Spreeufer, als im Dezember 2014 ein Berliner Kunstverein unangekündigt eine riesige Hauswand in Kreuzberg übermalt. Bis dahin waren die von Weitem sichtbaren Wandbilder sehr beliebte Foto- und Postkartenmotive. Sie standen für ein Berlin voller Möglichkeiten, für eine Metropole mitten in Europa, die vergleichsweise erschwinglich ist und Freiräume für alle zu bieten scheint.
Als die berühmten Wandbilder schwarz übermalt sind, erklärt der Kunstverein: "Wir hatten das Gefühl, dass es sieben Jahre nach ihrer Entstehung für diese Bilder an der Zeit war zu verschwinden (...) – sie standen für eine Ära in der Geschichte Berlins, die verblasst, und nun sterben sie gemeinsam." Was war passiert?
Die Grundstücke an der Cuvrystraße sind jahrzehntelang eine leere Fläche. Durch Kriegszerstörungen und die Teilung ist Berlin in den Neunzigerjahren längst nicht so dicht bebaut wie andere Großstädte in Europa. Die Insellage West-Berlins macht die Stadt lange unattraktiv für private Investitionen. Auch nach der Wiedervereinigung bleiben viele Flächen wegen der schlechten Wirtschaftslage länger frei. Die Cuvry-Brache ist eine der letzten ihrer Art in Kreuzberg. Das Flussufer ist hier leicht zugänglich und dient als beliebter Foto-Spot für Sonnenuntergänge über der Oberbaumbrücke. Bis 2014 bewohnen Obdachlose, Aussteiger und Wanderarbeiter ein wildes Camp auf dem Areal. Konflikte mit Anwohnern und Behörden führen schließlich zur Räumung.
Die angrenzenden fensterlosen Häuserwände bieten eine gigantische Open-Air-Leinwand. Zwei der Wandbilder sind sieben Jahre lang von weither sichtbar, etwa von der Oberbaumbrücke über die Spree, die täglich Tausende passieren. Das eine Bild zeigt einen riesenhaften Anzugträger, gefesselt mit goldenen Armbanduhren, der sich die Krawatte bindet. Auf dem anderen Kunstwerk sind zwei weiß maskierte Figuren dabei, sich gegenseitig von ihren Masken zu befreien. Ihre Hände formen die Zeichen für "Eastside" und "Westside", ein Hinweis auf die ehemals geteilte Stadt.
Geschaffen hat die Bilder 2007 der italienische Street-Art-Künstler BLU. Er ist es schließlich 2014 auch, der zustimmt, die Wände schwarz zu übermalen, nachdem kurz zuvor das wilde Camp geräumt wurde. Er will verhindern, dass der Investor, der auf der Brache teure Wohnungen bauen will, von seinen Werken profitiert. So verschwindet die Kunst erst unter schwarzer Farbe, dann hinter Neubauten. Das Ufer der Spree ist weiter im Wandel begriffen. Mit seinem verdichteten Stadtbild wird Berlin anderen Metropolen immer ähnlicher.