Der neue Minister erwartet, an seinem ersten Arbeitstag auf seinen Vorgänger zu treffen. Eine ordentliche Amtsübergabe, so denkt er, sei schließlich üblich. Doch im Außenministerium am Spreekanal stößt er lediglich auf einige Schreibkräfte, die in weitgehend leergeräumten Büros sitzen. Nicht einmal das regierungseigene Telefonnetz funktioniert. Das abgetretene SED-Regime will der siegreichen Gegenseite den Neuanfang möglichst schwer machen.
Der neue Außenminister heißt Markus Meckel, ist von Beruf Pfarrer und engagierte sich in der Friedensbewegung der DDR. Seit April 1990 gehört er für die SPD der ersten und letzten demokratischen DDR-Regierung an. Die Wählerinnen und Wähler haben sie beauftragt, die DDR möglichst schnell in die Deutsche Einheit zu führen. Auf die altgedienten Diplomaten seines Ministeriums will Meckel sich dabei keinesfalls verlassen, und auch zu den Beratern aus dem Auswärtigen Amt in Bonn hält er Abstand. Seine engsten Mitarbeiter sind Weggefährten aus der DDR sowie aus der westdeutschen Friedensbewegung. Sie haben sich viel vorgenommen.
Die DDR-Regierung in Ost-Berlin rechnet zunächst mit einem Prozess von zwei Jahren bis zur Einheit. Diese Zeit wollen die Neuen im Außenministerium für einen Umbau Europas nutzen. Ihr Ziel: Die beiden Militärblöcke – die NATO rund um die USA und der Warschauer Pakt rund um die Sowjetunion – sollen verschwinden, ebenso sämtliche Atomwaffen. Die europäischen Länder sollen fortan alle gemeinsam ihre Sicherheit gewährleisten.
Doch was nun ansteht, ist keine große Konferenz zur Neugestaltung des Kontinents, sondern Verhandlungen zur Deutschen Einheit. Neben den zwei deutschen Staaten sind lediglich die vier Siegermächte beteiligt. Sie heißen deshalb Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Die Sieger des Zweiten Weltkriegs – die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Frankreich – sind seit 1945 berechtigt, über "Deutschland als Ganzes" zu entscheiden. Vor allem müssen sie sich darüber einigen, zu welchem Militärbündnis das vereinigte Deutschland gehören wird. Zur Nato? Zum Warschauer Pakt? Zu keinem? Oder sogar zu beiden?
Die Ost-Berliner treffen mit ihrem Vorschlag, die Militärblöcke aufzulösen, in Washington auf Unverständnis. Deutschland, so die US-Regierung, könne seinen Platz nur in der Nato haben. So sieht man es auch in Bonn, London und Paris. Der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow, der ums politische Überleben kämpft, lehnt die DDR-Pläne ebenfalls ab. Meckel und sein Team stehen alleine da. Gegen die routinierten Diplomaten haben es die Neulinge schwer. Sie vertreten einen Staat, der dabei ist, sich selbst abzuschaffen. Welches Gewicht können sie noch haben?
Die Schlüsselfrage der deutschen Nato-Mitgliedschaft entscheidet sich zwischen Gorbatschow und US-Präsident George Bush. Gorbatschow gibt nach, weil die inneren Krisen seines Landes ihn ganz beanspruchen. Er hofft auf Milliardenhilfen aus Bonn, die er auch erhält. Alles geht viel schneller als erwartet. Die Außenminister der Zwei-plus-Vier-Staaten unterzeichnen im September den "Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland", wie er offiziell heißt. Markus Meckel zieht so Bilanz: "Ich habe zwar eine andere Konzeption für Zwei-plus-Vier gehabt, aber außerordentlich begrüßt, dass das so schnell und erfolgreich gelungen ist."