November 1989. Manfred Fischer, Pfarrer der West-Berliner Versöhnungsgemeinde an der Bernauer Straße, kann nicht schlafen. Seit dem Fall der Mauer, die Berlin für beinahe drei Jahrzehnte durchschnitt, hacken sogenannte Mauerspechte bis tief in die Nacht auf den Beton des Bauwerks ein. Jeder will seinen Splitter, sein Andenken an das glückliche Ende der kommunistischen Diktatur und der Teilung Europas. Der Pfarrer eilt hinaus und bittet die Souvenirjäger, das verhasste Bauwerk zu schonen. Nicht nur um seinen Schlaf geht es ihm. Er denkt an die Zukunft und an die Aufgabe, die Berliner Mauer für spätere Generationen zu erhalten.
Ende Dezember 1989 entscheidet die DDR-Regierung, die Mauer abzureißen. Bald darauf erklärt Pfarrer Fischer im DDR-Fernsehen, dass in der Bernauer Straße an die tödliche Grenze erinnert werden solle. Er überredet Soldaten, die mit dem Abriss beauftragt sind, ihre Arbeit abzubrechen. Beim Deutschen Historischen Museum findet er Mitstreiter. Sie lassen einen Mauerabschnitt nahe Fischers Gemeindehaus umzäunen und bewachen. Mit Erfolg: An seinem letzten Arbeitstag, dem 2. Oktober 1990, stellt der Magistrat von Ost-Berlin unter anderem diesen Mauerabschnitt unter Denkmalschutz.
Die Bernauer Straße weckt starke Gefühle. Hier sprangen in den Tagen nach dem Mauerbau 1961 Flüchtende aus den Fenstern ihrer DDR-Wohnungen in den Westen, einige kamen dabei ums Leben. Die Versöhnungsgemeinde von Pfarrer Fischer war plötzlich geteilt, ihr Gotteshaus stand im Sperrgebiet, den Gläubigen in West-Berlin blieb nur das Gemeindehaus schräg gegenüber. 1985 sprengte die DDR die Kirche. All das wollen 1989/90 viele endlich vergessen – "Die Mauer muss weg" heißt die Devise. Für die Bernauer Straße plant der Senat von West-Berlin den Bau einer sechsspurigen Straße. Eine Bürgerinitiative will das verhindern, und tatsächlich beschließt das Land Berlin den Bau eines Denkmals. 1998 wird es fertiggestellt, bald darauf auch das Dokumentationszentrum im Haus der Versöhnungsgemeinde. Diese weiht im Jahr 2000 die Kapelle der Versöhnung an der Stelle ein, wo einst ihre Kirche stand.
"Wo ist die Mauer?", fragen immer mehr Berlin-Besucherinnen und -Besucher, von denen längst nicht alle den Weg an die Bernauer Straße finden. Der Berliner Senat formuliert deshalb 2006 ein "Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer". Darin ist die Gedenkstätte an der Bernauer Straße Kern einer "Erinnerungslandschaft", die sich über gut zwei Kilometer Mauerstreifen erstreckt und 2014 eröffnet wird. Rostender Stahl und Rasen stehen seitdem an der Stelle von Beton und Kies der Grenzanlage. Die Architektur soll die Mauer räumlich nachvollziehbar machen, ohne sie nachzubauen. Was die Grenzsoldaten 1990 abräumten, bleibt unwiderruflich verschwunden – und was Manfred Fischer und seine Mitstreiter retteten, soll noch lange stehen.