Am 1. Oktober 1989 fällt der Kirchenrat der Gethsemanegemeinde eine scheinbar unbedeutende und doch historische Entscheidung. Das Gremium erfüllt die Bitte Oppositioneller, das Gotteshaus für eine Mahnwache zu öffnen. Die engagierten Christen wollen für die Freilassung von Demonstrierenden eintreten und beten, die in Leipzig festgenommen wurden. Dort tragen einige Mutige schon seit Wochen den Protest jeden Montagabend von der Nikolaikirche in die Stadt. Auch die Regimegegner in Ost-Berlin bedroht die Staatsgewalt, sie stehen unter scharfer Beobachtung durch die Spitzel der Geheimpolizei.
Die Mahnwache findet ein überwältigendes Echo. Am Abend des 4. Oktober kommen 3.000 Menschen in die Kirche. Manche harren dort Tag und Nacht aus, eine Handvoll fastet. Auf eine Andacht folgt Abend für Abend ein sogenannter politischer Teil. Jeder kann ans Mikrofon treten und sich frei äußern, was sonst in der Öffentlichkeit nirgends möglich ist. Opfer von Verhaftungen und Misshandlungen berichten über ihre Erlebnisse. Andere verlesen Namen von Festgenommenen und informieren über Widerstand und Verfolgung in der ganzen DDR. Informationen erhalten sie rund um die Uhr über das Kontakttelefon im Gemeindebüro.
Die meisten Anrufe kommen rund um den 7. Oktober 1989. Es ist der 40. Geburtstag der DDR, den das Regime mit Massenkundgebungen feiert. Doch auch ein Protestzug gegen die herrschende SED findet sich spontan zusammen und bewegt sich in Richtung Gethsemanekirche. Rund um das Gotteshaus gehen Polizei und Geheimdienst brutal gegen die Demonstrierenden vor und nehmen Hunderte fest, viele flüchten in die Kirche. Westliche Fernsehteams sind vor Ort und verbreiten Bilder von der Gewalt. Angehörige und Freunde von Festgenommenen aus der ganzen DDR kommen in die Kirche, um etwas über deren Schicksal zu erfahren.
Am 9. Oktober ist die Stimmung besonders gespannt. Aus Leipzig kommen Nachrichten über zusätzlich bereitgestellte Krankenhausbetten und Blutkonserven. Das nährt die Angst, die Montagsdemonstration könnte brutal niedergeschlagen werden. Dann, so denken viele, würde die Staatsmacht sicher auch gegen den friedlichen Protest in der Gethsemanekirche vorgehen. Doch bald kommt die erlösende Nachricht, dass es in Leipzig nicht zu staatlichen Gewaltakten kam. Die 70.000 Demonstrierenden sind so viele, dass sich die Verantwortlichen nicht zur Gewaltanwendung entschließen. Die Menge in der Gethsemanekirche jubelt. Viele Anwesende empfinden diese Neuigkeit als Wendepunkt. Echte Veränderung scheint nun möglich.
Über das Ende der Nachtschichten in der Gethsemanekirche am 13. Oktober hinaus bleibt sie ein wichtiger Treffpunkt für neu gegründete politische Gruppen in der DDR. Das Neue Forum oder Demokratie Jetzt stellen dort ihre Ideen vor, Kreative und Initiativen geben Erklärungen ab. Sie alle diskutieren über die Zukunft der DDR. Nach den freien Wahlen im März 1990 feiert die Volkskammer in der Gethsemanekirche einen Gottesdienst. So endet die friedliche Revolution an einem ihrer Brennpunkte.