Die neuen Büros sind eine Enttäuschung – keine Schreibtische, keine Stühle, kein Telefon. Arbeiten ist hier unmöglich. Dabei sind die Volksvertreter voller Tatendrang. Vor ihnen liegt die historische Aufgabe, ihren Staat, die DDR, mit der Bundesrepublik zu vereinigen. Am 18. März 1990 haben die Deutschen in der DDR erstmals frei die Volkskammer gewählt. Eine klare Mehrheit hat ihre Stimme den Parteien gegeben, die eine schnelle Wiedervereinigung anstreben.
Um die dafür nötigen Entscheidungen zu treffen, braucht das Parlament mehr Platz. Der alten Volkskammer genügte der Plenarsaal im Palast der Republik, um die Beschlüsse der allmächtigen Staatspartei SED abzunicken. Die neue demokratische Volkskammer findet Räume für Mitarbeiter und Ausschüsse ausgerechnet im Haus am Werderschen Markt. Von 1959 bis Anfang 1990 saß hier die SED-Führung. Es war der verschlossene und unheimliche Sitz der allmächtigen Staatspartei. Dann kommt die friedliche Revolution 1989. Die SED muss ihre Alleinherrschaft aufgeben. Nach den freien Wahlen im März 1990 geht sie unter dem Namen PDS – Partei des Demokratischen Sozialismus – in die Opposition und arbeitet zunächst weiter in der alten SED-Zentrale.
Die Regierung beschließt, Teile des Hauses am Werderschen Markt der Volkskammer zu übergeben. Aber der Alteigentümer, die PDS, hält die anderen Parteien hin. Der SPD-Abgeordnete Rolf Schwanitz: "Wir überlegten sogar, ob wir die umbenannte SED nicht kurzerhand enteignen sollten, damit es schneller ging." Als das Haus der Parlamentarier, wie es jetzt heißt, endlich offensteht, sind viele Büros leergeräumt. Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl, CDU, löst das Problem, indem sie mit Hilfe des Deutschen Bundestags in Bonn Büromöbel und Computer beschafft.
Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist eine gewaltige Aufgabe für die Abgeordneten, von denen viele zum ersten Mal Politik machen. Die Sitzungen dauern oft bis tief in die Nacht. Schwanitz: "Wir mussten in höchster Eile und in einer unheimlichen Dynamik Beschlüsse fassen, weil der Druck der Menschen wöchentlich wuchs, sich die ökonomischen Bedingungen rasant verschärften und das Zeitfenster für die Wiedervereinigung … immer kleiner wurde." Am 19. September 1990 schließen die Ost-Berliner Gesundheitsbehörden auch den alten Plenarsaal im Palast der Republik wegen Asbestbelastung, weil der Baustoff die Gesundheit gefährdet. Das Parlament tritt deshalb im Leninsaal am Werderschen Markt zusammen. Wichtigster Tagesordnungspunkt am 20. September: der Einigungsvertrag. Dieser regelt den Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten. Die Volkskammer nimmt ihn mit der nötigen Zweidrittelmehrheit an, sodass die DDR der Bundesrepublik beitritt. Bergmann-Pohl: "Wir haben geschafft, dass die Wiedervereinigung wirklich vollendet wurde und wir uns selbst überflüssig gemacht haben."