Das gab es noch nie. Arbeiter und Ingenieure sägen einen 1300 Tonnen schweren Saal aus einem Gebäude heraus und packen ihn ein. Sie setzen ihn auf Schienen und verschieben ihn mit Hydraulikpressen. Knapp 70 Meter legt der prächtige Kaisersaal im März 1996 zurück. In den Resten des Luxushotels Esplanade nahe dem Potsdamer Platz hat er die Jahre überdauert. Der Zweite Weltkrieg beschädigte das Hotel und viele weitere Bauten schwer. Die Berliner Mauer, die hier von 1961 bis 1989 verlief, ließ den Platz endgültig veröden. Die meisten Ruinen wurden schließlich entfernt. Und so wollen die Behörden, dass wenigstens der Kaisersaal erhalten bleibt.
Wo der Kaisersaal stand, baut der japanische Elektronik-Konzern Sony ein neues Stadtviertel. Um uneingeschränkt planen zu können, lässt Sony den Saal versetzen. Die dafür fälligen 50 Millionen D-Mark trägt das Unternehmen. Der Potsdamer Platz ist die größte und bekannteste unter den vielen Baustellen Berlins. Hier schlug für Jahrzehnte das Herz der Hauptstadt. Die erste Ampel Berlins steuerte die Anfänge des Autoverkehrs, um Hotels und Variétés wimmelten Passanten. Dann kamen Krieg und Teilung.
Mit dem Fall der Mauer im November 1989 liegt der verödete Potsdamer Platz mit einem Schlag wieder im Zentrum der Stadt. Und Berlin liegt plötzlich wieder im Zentrum Europas. Alle erwarten, dass die Stadt neuerlich zu dem Knotenpunkt wird, der sie einmal war. Ein Wirtschaftsboom scheint unausweichlich. Und so richten auch zwei Weltkonzerne ihr Auge auf die Stadt und den Platz. Neben Sony will der deutsche Autobauer Daimler-Benz sich dort niederlassen.
Wie aber soll der leere Raum, den die Geschichte hinterließ, ausgefüllt werden? Stadtplaner, Architekten und Öffentlichkeit diskutieren leidenschaftlich. Es siegen die Vertreter der sogenannten "kritischen Rekonstruktion". Das heißt, der alte Straßenverlauf soll wieder sichtbar werden. Hochhäuser sind unerwünscht, eine einheitliche Höhe ist vorgeschrieben. Steinfassaden mit Fenstern statt großer blanker Flächen aus Glas und Stahl sollen das Gesicht des neuen Viertels prägen.
Acht Milliarden D-Mark verbauen die Großinvestoren am Potsdamer Platz, 700.000 Quadratmeter Flächen für Büros, Geschäfte, Wohnungen und Kulturstätten entstehen. Doch die sogenannte "Berliner Mischung" von Wohnen und Gewerbe ist unvollständig. Es gibt keine Schule, keine Kita, kein Seniorenheim, dafür umso mehr Büros und Läden. Den Architekten und Bauherrn gelingt es zudem, die baulichen Vorgaben aufzuweichen. Mit 35 Metern liegt die Höhe der Bauten 13 Meter über dem sonst gültigen Maß. Vier Hochhäuser überragen das Viertel.
Besonders unter dem markanten Zeltdach des Sony Centers ist viel Betrieb. Im Kaisersaal, der nach seiner Verschiebung jahrelang leer stand, hat sich ein Restaurant eingemietet. Doch dem Konzern, der ihn umsetzen ließ, gehört er längst nicht mehr. Der erwartete Berlin-Boom begann erst 2010 mit zwanzigjähriger Verspätung. Sony und Daimler-Benz hatten da ihre einstigen Prestigeprojekte bereits an Immobilienfirmen verkauft. So erinnert das Stadtviertel der Großkonzerne auch an die zunächst enttäuschte Hoffnung auf den großen Aufschwung.