Weiße Nelken sind in China ein Zeichen für Trauer. Am 28. Juni 1989 sind sie das auch in Ost-Berlin. Am Eingang der Samariterkirche verteilen Freiwillige die Blumen an die vielen Menschen, die zum Klagegottesdienst kommen. Gut drei Wochen zuvor haben in Peking Panzer des kommunistischen Regimes die gewaltlosen Kundgebungen auf dem Platz des Himmlischen Friedens, dem Tian'anmen-Platz, brutal niedergewalzt. Viele Pekinger haben sich verzweifelt gewehrt, Tausende den Ruf nach Freiheit und Demokratie mit dem Leben bezahlt. Die Schockwellen erreichen die DDR. Die herrschende Staatspartei SED rechtfertigt die Gewalt. Auch zu Hause müsse die Jugend den Sozialismus verteidigen, "wenn nötig, mit der Waffe in der Hand", droht Bildungsministerin Margot Honecker.
Die Wenigen, die sich in der DDR offen gegen die Diktatur stellen, fürchten seitdem eine "chinesische Lösung". Wer vor der Botschaft der Volksrepublik China versucht, seinen Protest auszudrücken, wird von Sicherheitskräften abgefangen. Als bekannt wird, dass in China die ersten Todesurteile gegen Demonstrierende vollstreckt werden, zeigt die gelenkte DDR-Presse Verständnis. Manche Oppositionelle gehen daraufhin zu noch sichtbareren Aktionen über.
In der Samariterkirche in Berlin-Friedrichshain bietet Pfarrer Rainer Eppelmann schon seit zehn Jahren Freiräume für Unangepasste. Auch leistet er selbst Widerstand gegen das SED-Regime. Nun lädt er mit anderen Pfarrern zum Klagegottesdienst. Die 1.100 Sitzplätze in der Samariterkirche reichen nicht aus, hunderte Weitere stehen oder sitzen auf dem Boden. Eppelmann verliest mit Kollegen den Ablauf der Ereignisse in China. Sie stellen dabei Meldungen aus DDR-Zeitungen solchen aus dem Ausland gegenüber. Ihre Schlussfolgerung: "Die Medien der DDR sind nicht willens, über die Vorgänge in China wahrheitsgemäß zu berichten." Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterzeichnen einen offenen Brief an die "Freunde in China": "Wir wissen, daß die Gewalt nicht von Euch ausgegangen ist und daß auf friedliche Bürger geschossen wurde. [...] Seid gewiß, daß es auch in der DDR viele Menschen gibt, die mit Euch trauern, Euren Zorn und Eure Angst teilen – aber auch die Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus."
An diesem Tag stehen Mannschaftswagen mit Uniformierten rund um die Samariterkirche. Volkspolizisten beobachten Kirchgänger misstrauisch, greifen aber nicht durch. Die Staatsgewalt begnügt sich mit Einschüchterung. Im Herbst 1989 wird sie hunderte Demonstrantinnen und Demonstranten festnehmen und misshandeln. Doch zur befürchteten "chinesischen Lösung" kommt es nicht. Die DDR-Führung hat Skrupel, auf die eigene Bevölkerung schießen zu lassen. Weil der Protest friedlich bleibt, fehlen ihr Anlass und Rechtfertigung.