Wo sonst Beamte ihrem Dienst nachgehen, herrscht im August 1989 Ausnahmezustand. Überall in der Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin kampieren Menschen dicht an dicht auf Matratzen. Die gut 130 Ostdeutschen wollen die DDR verlassen und hoffen, dass die westdeutschen Diplomaten ihnen dabei helfen. Um weiteren Andrang zu verhindern, schließt die Ständige Vertretung am 8. August 1989 ihre Türen. Die Vertreter Bonns stehen nun vor ganz praktischen Aufgaben. Eberhard Grashoff, damals Pressesprecher der Ständigen Vertretung, erinnert sich: "Wir haben vom Spielzeug bis zum Milchpulver alles Mögliche gekauft, es kamen Psychiater, Angestellte gaben Englischunterricht oder hielten Vorträge zu Rechtsfragen im West-Alltag. Wir haben alles improvisiert. Und saßen in der Festung."
Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR besteht seit 1974. Eine ihrer Aufgaben ist es, Reisen zwischen Ost und West zu erleichtern. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hören auch jenen zu, die die DDR für immer verlassen wollen. Ihre Ausreise müssen sie offiziell beantragen, die Bearbeitung dauert Jahre. Die Antragsteller erleiden Schikanen und erhalten oft eine Ablehnung. Die Diplomaten können wenig für sie tun. Zumindest fragen sie bei der DDR nach, ob Ausreiseanträge auch wirklich bearbeitet werden.
Einige Ausreisewillige begnügen sich damit nicht. Erstmals 1975 – und danach immer wieder – weigern sich Besucher der Vertretung, das Haus in der Hannoverschen Straße wieder zu verlassen. Sie fordern, sofort in den Westen zu gelangen. Ost und West verhandeln darüber, was aus ihnen werden soll. Sie vereinbaren, dass ein Rechtsanwalt, der als Vertrauensmann der DDR-Regierung auftritt, den Menschen in der Vertretung die baldige Ausreise zusichert. Allerdings sollen sie zunächst in ihre Wohnorte zurückkehren und dort einen ordentlichen Ausreiseantrag stellen. Fortan überzeugen Mitarbeiter der Vertretung die Ausreisewilligen, diesen Weg zu gehen. Die DDR hält die Zusagen stets ein.
Die Zahl der Menschen, die die DDR verlassen wollen, steigt 1989 dramatisch. DDR-Stellen bewilligen allein 100.000 Ausreiseanträge. Viele mehr suchen nach anderen Wegen aus dem Mauerstaat. Ein Fluchtpunkt ist die Ständige Vertretung. Die Behörden der beiden deutschen Staaten handeln wie gewohnt. Ab Anfang September reisen die dort Untergekommenen nach dem eingeübten Verfahren aus der DDR aus. Doch das ist nur der Anfang. Tausende kommen im Spätsommer in die bundesdeutschen Botschaften in Prag, Warschau und Budapest. Die DDR-Führung entscheidet, die Menschen in den Westen zu entlassen. Sie hofft, dadurch die politische Lage zu stabilisieren. Stattdessen zeigt die Massenflucht, wie wenig Vertrauen viele Ostdeutsche in die DDR-Führung haben. Die Abstimmung mit den Füßen trägt maßgeblich dazu bei, die SED-Herrschaft ins Wanken zu bringen.